Am 10. Januar 2024 ist Helmut Sauer, der Ehrenvorsitzende und langjährige Bundesvorsitzende der Ost- und Mitteldeutschen Vereinigung der CDU/CSU (OMV) – Union der Vertriebenen und Flüchtlinge, nach kurzer, aber schwerer Krankheit in Braunschweig verstorben.
Mit Helmut Sauer ist ein aufrechter Schlesier, ein katholischer Christ mit klarem, sozialem Wertekompass, ein gleichermaßen verdienter wie loyaler CDU-Politiker, ein überzeugter Europäer, ein Kämpfer für die Menschen- und Volksgruppenrechte sowie das Recht auf die Heimat von uns gegangen. Er hinterlässt eine große Lücke in der politischen wie in der landsmannschaftlichen Arbeit und in den Herzen der vielen Wegbegleiter, die er mit seiner Begeisterung über Jahrzehnte angesteckt hat. Unsere Gedanken sind in diesen schweren Stunden mit seiner Familie.
Geprägt von Heimat und Vertreibung
Geboren wurde Helmut Sauer am Heiligen Abend 1945 noch in seiner schlesischen Heimat, im Forsthaus von Quickendorf (Lutomierz) im Kreis Frankenstein (Ząbkowice Śląskie) als zweites Kind von Alfons Sauer, gebürtig aus Striegau (Strzegom), und Florentine-Hedwig Sauer, geb. Stais, gebürtig aus Ratibor (Racibórz). Der von den Nationalsozialisten entfesselte Zweite Weltkrieg war seit mehr als einem halben Jahr vorbei. Das heimatliche „Gut Quickendorf“, das der Vater als Gutsinspektor für den Grafen Seherr-Thoss verwaltete, war in den Händen der Roten Armee. Die Deutschen in der Region hatten bereits Plünderungen und Gewalt erlebt. Dennoch gelang auch die Taufe noch auf schlesischem Boden und erfolgte am 3. Februar 1946 in St. Barbara im benachbarten Peterwitz (Stoszowice). Doch am 28./29. April 1946 wurde die Familie aus der Heimat vertrieben. Zunächst ging es in die Kreisstadt Frankenstein, wo man die Deutschen aus der Gegend zusammentrieb und nochmals ausplünderte. Dann wurden sie in unbeheizte Viehwaggons verfrachtet, und eine sechstägige Fahrt mit ungewissem Ziel begann, die dann im niedersächsischen Lengede endete.
Helmut Sauer hat später häufig von den Erinnerungen seiner Eltern an die traumatische Vertreibung berichtet, die insbesondere seine Mutter sehr belasteten, zumal sie außer dem Säugling Helmut auch noch die bereits zweijährige Tochter Renate hatte. Gleichzeitig hat er jedoch auch immer wieder bekannt: „Ich bin auf einer Flucht geboren worden. Die meisten Kinder auf dieser Flucht nach dem Krieg sind umgekommen; ich habe überlebt. Weil ich als Baby überlebt habe, fühle ich mich dem Problem, dem Drama des Vertreibens zeit meines Lebens verpflichtet.“
Aufgewachsen in Lengede und Bonn
Ankunft und Aufwachsen in Legende prägten Helmut Sauer aber gleichermaßen wie die heimatliche Verbundenheit mit Schlesien, die zunächst insbesondere seine Eltern pflegten. Besonders von denjenigen, die ihre Heimat verloren hatten, musste alles erkämpft werden – von den Lebensmitteln über die Arbeit bis hin zur eigenen Kirche und zur Wohnung als Grundlage eines neuen Zuhauses. Viele Einheimische unterstützten die Vertriebenen. Andere aber lehnten die Neuankömmlinge ab und bezeichneten sie in einem Atemzug mit Wild¬schweinen und Kartoffelkäfern als „Landplagen“. Somit waren sozialer Ausgleich und soziale Gerechtigkeit gerade auch für die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge in dieser Zeit, Anfang bis Mitte der 1950er Jahre, das wichtigste Thema.
Als Schüler verließ Helmut Sauer das Elternhaus bald schon für einige Jahre. Es ging in die Bundeshauptstadt Bonn ins Internat an das renommierte Collegium Josephinum, das damals noch unter der Führung des Redemptoristen-Ordens (CSsR) stand. Die Jahre in Bonn sollten ein Fingerzeig für die spätere Karriere sein.
Verantwortungsübernahme im Betrieb und in der CDU
Nach der Mittleren Reife galt es Anfang der 1960er Jahre, etwas „Handfestes“ zu lernen. Helmut Sauer absolvierte eine Lehre als Kaufmann in der Grundstücks- und Wohnungswirtschaft bei der Wohnungs-AG Lebenstedt und fand auch seine erste Anstellung bei dem zur Preussag gehörenden Unternehmen in Salzgitter (heute Salzgitter AG). Durch seinen Einsatz für soziale Fragen wurde er bald schon in den Betriebsrat gewählt.
1965 trat er dann noch 19-jährig in die örtliche CDU ein – vielleicht etwas zum Leidwesen seines Vaters, der über Jahre für den Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) in den Lengeder Gemeinderat gewählt worden war und dort auch als 1. Beigeordneter gewirkt hatte. Aber für Helmut Sauer musste es die CDU sein. Zwei zu der Zeit bereits verstorbene, entfernte Verwandte, die für ihn bis zuletzt zu seinen wichtigsten Vorbildern gehörten, hatten in Berlin nach dem Krieg die CDU mitgegründet und bildeten gleichzeitig eine Brücke in die verlorene Heimat: Der frühere Oberpräsident von Oberschlesien (1927-1933, Zentrum), Dr. Hans Lukaschek, wirkte in der jungen Bundesrepublik als erster Bundesvertriebenenminister (1949-1953), und der frühere Ratiborer Domherr und Reichstagsabgeordnete (1920-1933, Zentrum), Prälat Carl Ulitzka, hatte viel zum Aufbau einer eigenständigen preußischen Provinz Oberschlesien geleistet und die Volksabstimmung 1921 tonangebend mitgestaltet.
In der Partei engagierte Helmut Sauer sich zunächst vor allem für die Jugend, in den CDU-Sozialausschüssen (CDA) und im Sinne seiner vertriebenen Landsleute. Wie sehr gerade die Heimatverbundenheit seiner Eltern auch auf ihn übergegangen war, zeigt sich u.a. darin, dass er schon 1967 mit dem Stadtjugendring Salzgitter eine Reise in die schlesische Heimat machte. Ein wegweisender Besuch, dem noch unzählige weitere folgen sollten.
Arbeit im Deutschen Bundestag
Die politische Arbeit erwies sich bald schon als Helmut Sauers Element. 1971, mit gerade 25 Jahren, schenkten ihm die Delegierten des CDU-Kreisverbandes Salzgitter ihr Vertrauen und wählten ihn zum Kreisvorsitzenden. Dieses Amt hatte er bis 1993 inne.
Bereits ein Jahr später, mit 26 Jahren, zog er über die Liste der CDU in Niedersachsen als damals jüngster Abgeordneter erstmals in den Deutschen Bundestag ein. Fraktions-Senior in Bonn war noch der Vater der Sozialen Marktwirtschaft und des Wirtschaftswunders, Altkanz¬ler Ludwig Erhard, der den „Benjamin“ der CDU/CSU-Fraktion persönlich willkommen hieß. Bis zur Wahl 1994 vertrat er den Wahlkreis Salzgitter-Wolfenbüttel im Bundestag, trat dabei immer wieder als CDU-Direktkandidat an, konnte aber in der Arbeiter-Region trotz überzeugender Wahlkämpfe und großen Respekts vor Ort das Mandat nie direkt erringen, sondern zog stets über die Landesliste ein.
Als Bundestagsabgeordneter erweiterte Helmut Sauer seine Arbeitsfelder – und blieb dabei stets auch seinen Kernthemen treu. Er arbeite u.a. im Innerdeutschen Ausschuss, im Unter¬ausschuss für Humanitäre Hilfe und Menschenrechte sowie von Beginn an in der Vertrie¬benengruppe der CDU/CSU-Fraktion mit und wurde von 1976 bis 1995 ins NATO-Parlament entsandt. Immer wieder gelang es ihm, die an den Rand gedrängten Anliegen der deutschen Heimatvertriebenen und Aussiedler und zu Beginn der 1990er Jahre auch der Spätaussiedler und der Landsleute in der Heimat auf die Tagesordnung der Ausschüsse und des Plenums setzen zu lassen. Sein Einsatz für die geschichtliche Wahrheit und die Lösung ungeklärter rechtlicher Fragen brachte ihm Respekt im bürgerlichen Lager und bei den Schicksalsgefährten, aber auch Kritik aus dem linken politischen Lager und hanebüchene Angriffe aus den linken Medien ein. Mit der Zentralen Erfassungsstelle für das SED-Unrecht im eigenen Wahlkreis und einem Familienzweig in der DDR engagierte er sich ferner, auch gegen Widerstände, für die Menschenrechtssituation in der DDR und über viele Jahre für die Wiederherstellung der Deutschen Einheit.
Fast als „krönender Abschluss“ seines Mandats ist die „Konvention gegen Vertreibung“ zu sehen, die der Bundestag 1994 maßgeblich auf die Initiative von Helmut Sauer hin verabschiedet hat. Darin heißt es: „Vertreibung jeder Art ist international zu ächten und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ahnden. Wer vertrieben wurde, hat Anspruch auf die Anerkennung seiner Rechte.“
Engagement in der OMV und in den Vertriebenenverbänden
In der OMV übernahm er ab 1975 Verantwortung, als er als Beisitzer in den Bundesvorstand gewählt wurde. Ab 1977 wirkte er als stellvertretender Bundesvorsitzender, zwischen 1979 und 2017 als Landesvorsitzender in Niedersachsen. Eng arbeitete er mit dem damaligen OMV-Bundesvorsitzenden und späteren Ratiborer Ehrenbürger, Herbert Hupka, zusammen, der 1989 den Staffelstab an Helmut Sauer weitergab. Bis 2017 leitete er die Geschicke der Parteivereinigung und wurde danach zum Ehrenvorsitzenden ernannt. Während seiner Zeit als OMV-Bundesvorsitzender wurde er stets kraft Amtes in den CDU-Bundesvorstand kooptiert.
Von 1982 bis zu seinem Tode war Helmut Sauer Landesvorsitzender der Landsmannschaft Schlesien – Nieder- und Oberschlesien, Landesgruppe Niedersachsen. Von 1984 bis 1992 und von 2000 bis 2014 wirkte er als Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen (BdV). Eng arbeitete er mit den katholischen Visitatoren der Vertreibungsgebiete, den deutschen „Ersatz-Bischöfen“, zusammen und wurde durch sein Engagement für das Schlesische Priesterwerk und in der Visitatur Breslau auch zum Mitglied im Katholischen Flüchtlingsrat ernannt.
Heimatvertriebene, Heimatverbliebene und europäische Verständigung
Hunderte Reisen in die Heimat – nach Nieder- und Oberschlesien – unternahm er schon ab Ende der 1960er Jahre, aber auch in andere der ehemaligen Ostprovinzen und Vertreibungs¬gebiete. Stets suchte er dabei den Kontakt zu den Heimatverbliebenen, nahm deren Wün¬sche und Bedürfnisse auf, brachte sie in seine politische Arbeit ein und anderen politischen Akteuren zu Gehör. Leidenschaftlich, diplomatisch, aber auch hart in der Sache setzte er sich unermüdlich dafür ein, dass Kultur und Geschichte des Deutschen Ostens sowie das Schicksal der Heimatvertriebenen und der Heimatverbliebenen in der Gesellschaft mehr Aufmerksamkeit finden, aber auch dass der Gedanke der grenzüberschreitenden Verständigung Wurzeln schlägt. Städte- und Schulpaten- und -partnerschaften lagen ihm dabei ebenso am Herzen wie der kulturelle Austausch zwischen den Vertriebenen und den „neuen“ Bewohnern der Heimatgebiete.
Welch große Wertschätzung Helmut Sauer von den deutschen Landsleuten, insbesondere in Schlesien, entgegengebracht wurde, belegt eindrucksvoll eine Begebenheit, die sich 2009 zugetragen hat, als er in Peterwitz in seiner Taufkirche an der Verabschiedung des Ortspfarrers und der Amtseinführung dessen Nachfolgers teilnahm. Völlig unvermittelt betonte der Schweidnitzer Bischof Prof. Dr. Ignacy Dec, dass er Sauer schon seit seiner Zeit als Dekan der Theologischen Fakultät in Breslau kenne und von seinen langjährigen persönlichen Hilfen, aber auch von der Vermittlung deutscher Regierungsfinanzhilfen nach Schlesien aus Freundes- und Kirchenkreisen wisse. Aus Dankbarkeit und tiefer Verbundenheit überreichte Bischof Dec dem so überraschend Geehrten ein Duplikat seines Bischofsringes.
Überdies wurde Helmut Sauer für seinen Einsatz bereits 1981 mit der Goldenen Ehrennadel des Bundes der Vertriebenen, 1987 mit dem Bundesverdienstkreuz, 1994 mit dem Bundes-verdienstkreuz 1. Klasse, 1999 mit dem Schlesier-Kreuz der Landsmannschaft Schlesien und 2006 mit der Kardinal-Bertram-Medaille der Apostolischen Visitatur Breslau ausgezeichnet. Eine der ergreifendsten Ehrungen war zuletzt die Verleihung der Verdienstmedaille des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen (VdG) 2021 in Kattowitz (Katowice), für die der Geehrte nur mit tränenerstickter Stimme danken konnte.
In den letzten Lebensjahren machten Helmut Sauer gesundheitliche Probleme immer wieder zu schaffen. Er trat kürzer, machte ausgiebige Spaziergänge am Salzgittersee, traf Freunde und suchte sich seine offiziellen Termine gezielt aus. Am Schreibtisch, mit der Zigarre in der einen und dem Füllfederhalter in der anderen Hand, begegnete man ihm nur noch selten.
Geistreich und unterhaltsam, nahbar und menschlich
Eine wunderbare Anekdote, die von einem derjenigen erzählt wird, die sich von Helmut Sauers Leidenschaft anstecken ließen, zeigt, was für ein Mensch er zeit seines Lebens war: Noch in der Bonner Republik kam eine Jugendgruppe in die Bundeshauptstadt, um die parlamentarische Arbeit kennenzulernen. Am Abend des Anreisetages erprobte man die Bonner Gastlichkeit. Im Restaurant gesellte sich ein junger Mann zu der Besuchergruppe, fragte nach Herkunft und Besuchsgrund. Er stieß mit den Jugendlichen an, stellte sich nur mit „Ich bin Helmut!“ vor, gab die eine oder andere Runde aus und begeisterte mit seinem Wissen und mit Anekdoten aus der politischen und aus der Vertriebenenarbeit. Als es spät wurde, achtete er genau darauf, dass alle Jugendlichen sicher in ihre Herbergen kamen. Am nächsten Morgen hatte die Gruppe einen Termin bei einem CDU-Bundestagsabgeordneten. Die Tür ging auf, und herein kam der junge Mann, mit dem der Abend davor so kurzweilig gewesen war: Helmut Sauer.
So freundlich und interessiert, so geistreich und unterhaltsam, so nahbar und menschlich ist er vielen Menschen im Laufe seines Lebens begegnet. So wollen wir ihn in Erinnerung behalten und ihm ein ehrendes Andenken bewahren.
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